Page 24 - Holzforum Ausgabe 4/2015
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Handel Interview

Rennen in die
falsche Richtung

Der „Akademisierungswahn“ ist der Grund für den Fach-
kräftemangel in Deutschland. Ein HOLZFORUM-Gespräch
mit Professor Julian Nida-Rümelin.

Herr Professor Nida-Rümelin,        rufe. Dies ist, vereinfacht ausge-  ebenso wie Archi-
Sie beklagen einen „Akademi-        drückt, die Ursache für unseren
sierungswahn“ in Deutschland.       Fachkräftemangel.                   tekten und Zahnme- „Entscheidend ist die Motivation“:
Was konkret verstehen Sie                                               diziner, Sprach- und Professor Julian Nida-Rümelin.
darunter?                           Aber bieten nicht tatsächlich
                                    akademische Berufe mehr             Kulturwissenschaft-
Der Grad der Akademisierung         Chancen?
ist in den vergangenen Jahren                                           ler dagegen verdienen teilweise len vor Ort zu suchen. Denn zu
dramatisch gestiegen. Konkret       Die Spreizung beim Verdienst
stieg die Quote in Deutschland      von Akademikern ist extrem          sehr wenig. Auch Naturwissen- wenig Jugendliche wissen, wie
von rund 35 Prozent im Jahr         hoch. Humanmediziner verdie-
2007 auf 55 Prozent im Jahr         nen gut, ebenso wie Ingenieure      schaftler stehen oft nicht gut da. viele Möglichkeiten, wie viele
2013. Verbunden damit ist die       und Informatiker, auch wenn
Botschaft an die Schülerinnen       sich bei diesen beiden Berufs-                                    unterschiedliche Berufe es gibt
und Schüler: Wer es nicht zur       gruppen bereits eine gewisse
Hochschulreife schafft, hat ver-    Sättigung am Markt abzeich-         Was schlagen Sie vor?         und welche Möglichkeiten und
sagt. Damit einher geht eine        net. Wirtschaftswissenschaftler
Abwertung der praktischen Be-       und auch kaufmännische Berufe                                     Chancen diese bieten. Gefor-

                                                                        Wir bräuchten für alle Studien- dert ist aber natürlich auch die

                                                                        gänge entsprechende Eignungs- Schule selbst, die Schülerinnen

                                                                        prüfungen, um die Zahl der Studi- und Schüler über die Wirklichkei-

                                                                        enabbrecher zu verringern. Wem ten des beruflichen Alltags zu in-

                                                                        ist damit gedient, wenn man im formieren.

                                                                        zehnten Semester merkt, dass

                                                                        ein Fach nicht für einen geeig- Das heißt, die Schulabgänger

                                                                        net ist?                      sind mangelhaft auf ihren künf-

                                                                                                      tigen beruflichen Werdegang

Julian Nida-Rümelin …                                                   Und was empfehlen Sie Lehr- vorbereitet ...

                                                                        lingen bzw. den ausbildenden

… wird neben Jürgen Haber-          sophie einer humanen Ökono-         Betrieben?                    Leider ja. Wir müssen aber
mas und Peter Sloterdijk zu den     mie“ (2011), „Philosophie ei-
renommiertesten Philosophen         ner humanen Bildung“ (2013),                                      auch sehen, dass wir es mit
Deutschlands gezählt. Heute         „Akademisierungswahn – zur
lehrt er Philosophie und Politi-    Krise beruflicher und akademi-      Den Unternehmen empfehle einer neuen Generation mit ih-
sche Theorie an der LMU Mün-        scher Bildung“ (2014) sowie
chen. Für fünf Jahre (1998 bis      ein Gesprächsband über „Die         ich, nicht ausschließlich auf die ren spezifischen Stärken und
2002) wechselte Nida-Rüme-          neue deutsche Bildungskatas-
lin in die Kulturpolitik, zunächst  trophe – zwölf unangenehme          Noten zu achten. Die sind zwar Schwächen zu tun haben. Viele
als Kulturreferent der Landes-      Wahrheiten“ (2015), befassen
hauptstadt München, dann als        sich mit Themen aus der prak-       wichtig, besser aber ist, heraus- der jungen Menschen sind ge-
Kulturstaatsminister im ersten      tischen Philosophie, der po-
Kabinett Schröder. Seine zahl-      litischen Theorie und der Bil-      zufinden, ob jemand wirklich mit prägt von einer gewissen Über-
reichen Publikationen, darunter     dungsphilosophie.
„Die Optimierungsfalle - Philo-                                         Motivation an eine Aufgabe her- empfindlichkeit und sind wenig

                                                                        angeht.                       belastbar. Die Krankheitsquote

                                                                                                      beispielsweise ist ungewöhn-

                                                                        Relativ schwierig, wenn es zu lich hoch. Und sie haben Angst,

                                                                        wenige Bewerber gibt ...      sich früh festzulegen. Auf der

                                                                                                      anderen Seite sind sie mit dem

                                                                        Richtig. Deshalb tun die Un- Internet aufgewachsen und in

                                                                        ternehmen gut daran, die Zu- der Lage, ein Höchstmaß an

                                                                        sammenarbeit mit den Schu- Informationen zu verarbeiten.

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